„Wir dürfen nicht wegschauen!“
Bei der Renovabis-Pfingstaktion steht in diesem Jahr die Arbeitsmigration aus Osteuropa im Blick. Auch in Frankfurt gibt es eine große Anzahl von Menschen aus osteuropäischen Staaten, die auf Zeit zum Arbeiten nach Deutschland gekommen sind und die dabei ganz eigenen Problemen begegnen. Rolf Glaser ist stellvertretender Stadtdekan und Pfarrer der Pfarrei St. Hildegard, in der das „Hedwigsforum Kirche der Welt“ beheimatet ist. Dort findet jährlich die Renovabis-Eröffnung für Frankfurt statt. Im Interview erzählt Pfarrer Glaser davon, wie er die Situation von Arbeitsmigrantinnen und –Migranten in Frankfurt wahrnimmt.
Pfarrer Glaser, der Titel der deutschlandweiten Renovabis-Aktion lautet in diesem Jahr „Sie fehlen. Immer. Irgendwo. Arbeitsmigration aus Osteuropa“. Arbeitsmigration ist auch in Frankfurt ein großes Thema. Welche Herausforderungen stellen sich für Arbeitsmigranten in einer Großstadt?
ROLF GLASER: Ein Hauptproblem ist, dass viele Arbeitsmigranten kein Deutsch sprechen, sich deshalb nur schwer verständigen können und unser Arbeitsrecht nicht kennen. Das macht sie, leider, zu einer leichten Beute für jene, die das ausnutzen und sie zu völlig unakzeptablen Bedingungen arbeiten lassen. Im Zuge der Vorbereitungen auf das diesjährige Thema haben wir uns beim Frankfurter Netzwerk „Faire Mobilität“ informiert, das über den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angesiedelt ist beim Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen. Dort hat man eine gute Einsicht in die Lebens- und Arbeitssituation der Menschen.
Was haben Sie bei diesem Gespräch über die persönliche Situation der Arbeitsmigrantinnen und –Migranten erfahren?
Die Situation unterscheidet sich von Branche zu Branche. Wer über eine Agentur als Pflegekraft nach Deutschland kommt, kommt hier in – einigermaßen – geregelte Verhältnisse. Bei Arbeitern, die für den Bau, für Landwirtschaft oder die Ernährungsindustrie angeworben werden, läuft das oft anders. Es kommt wohl häufiger vor, dass sie in Frankfurt eintreffen und der Arbeitgeber zwischenzeitlich seine Pläne geändert hat und sie dann ohne Unterkunft und völlig mittellos dastehen. Oder sie sind gezwungen, unter wirklich schlimmen Bedingungen in völlig überteuerten Wohnungen zu leben, weil sie keine Alternative haben.
Da wäre es hilfreich, die eigenen Rechte zu kennen. Wie gut vernetzt sind Menschen, die aus Ländern wie Polen, Rumänien oder Bulgarien zum Arbeiten hierher kommen?
Wenn man Glück hat, kennt man schon Landsleute vor Ort oder lernt sie kennen. Das ist aber nicht immer so. Unsere muttersprachlichen Gemeinden sind gute Anlaufstellen, sie leisten mit ihrer Beratung wertvolle Dienste. Aber natürlich muss man sich erst einmal orientieren und herausfinden, wo man die entsprechenden Institutionen findet.
Wie kann die Gesellschaft die Menschen erreichen?
Am besten geht das über entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, Mundpropaganda, in sozialen Medien. Mitarbeiter des Netzwerks „Faire Mobilität“ sind auch als Streetworker unterwegs. Auch in Griesheim, direkt vor unserer Tür, gibt es eine Wohnunterkunft für osteuropäische Arbeiter, aber es scheint von den Betreibern nicht gewünscht, dass wir das Gespräch mit den Leuten suchen. Wir hoffen deshalb, dass sie in Gottesdienste kommen, dort kann man sie ansprechen und Hilfe anbieten, notwendigerweise auf ihrer Sprache. Das ist unsere Aufgabe, die Kirche hat immer eine Anwaltsfunktion für Menschen, die in eine soziale Notlage geraten.
In Deutschland gibt es einigermaßen strenge Regeln, was den Arbeitsschutz betrifft. Bei Menschen, zum Beispiel aus Osteuropa, die rund um die Uhr in privaten Haushalten als Pflegekraft eingesetzt werden, wird oft „ein Auge zugedrückt“ und zum Beispiel auf feste Ruhezeiten verzichtet. Worauf sollten Privathaushalte, die durch Pflegebedarf zu Arbeitgebern werden, achten?
Wenn die Menschen über offizielle Wege herkommen, zum Beispiel über Pflege-Agenturen, gibt es oft einen Minimalschutz, also einen Vertrag, in dem Mindeststandards wie ein freier Tag pro Woche formuliert sind. Ob diese ausreichen – und ob sie umgesetzt werden – ist eine ganz andere Frage. Für die Familien von Pflegebedürftigen bringt es natürlich Betreuungsprobleme mit sich, wenn die Pflegerin einen Tag frei hat, daher ist der Druck entsprechend hoch, auf den freien Tag zu verzichten. Dabei wäre es sehr wichtig, dass die Familien es als Selbstverpflichtung ansehen, ihren Pflegekräften freie Tage und feste Ruhezeiten zu stellen. Und übrigens auch, ihnen ein anständiges Zimmer zu geben, keinen Kellerraum. Und es braucht vor allem eine bessere gesetzliche Regelung der häuslichen Pflege durch Pflegekräfte und ihrer auskömmlichen Finanzierung, auch mit öffentlichen Mitteln. Familien können eine wirklich faire Entlohnung nicht alleine stemmen!
Ohne freien Tag arbeiten die Pflegekräfte ja im Grunde rund um die Uhr. Was macht das mit einem Menschen?
Das Hauptproblem ist wohl die psychische Belastung und Überlastung. Nicht nur der Körper muss ja regenerieren, auch die Seele braucht Zeit, um sich zu sammeln und zu erholen. Wer im deutschen Arbeitsrecht Bereitschaftsdienst verrichtet, bekommt eine Vergütung, Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit. Bei den Pflegekräften in Privathaushalten ist das oft nicht der Fall – und wird auch nicht eingefordert, weil die Pflegenden die deutschen Rechte nicht kennen. Wir als Gesellschaft dürfen da nicht wegschauen.
Renovabis-Eröffnung 2023: „Sie fehlen. Immer. Irgendwo. Arbeitsmigration aus Osteuropa“
Samstag, 20. Mai 2023, 15.15 Uhr bis 17.30 Uhr, anschließend Gottesdienst
St. Hedwig – Pfarrei St. Hildegard, Elsterstraße 18
Kaffee-Treff für polnische Betreuerinnen und Betreuer
Ankerplatz-ffm organisiert in Kooperation mit der Initiative "Faire Mobilität" und der Gemeinde St. Wendel ein Kaffeetreff für polnische Pflegekräfte! Wenn Sie in der Pflege arbeiten oder Menschen aus Polen kennen, die hier in Frankfurt arbeiten, sind Sie herzlich eingeladen! Wir wollen eine Möglichkeit schaffen, sich kennenzulernen und auzutauschen. Sprachbarrieren wird es keine geben - es wird polnisch gesprochen!
Termin ist der 13. Juni 2023 von 13-15 Uhr.
Im Gemeindesaal der St. Wendel Kirche, Altes Schützenhüttengässchen 6, Frankfurt am Main.
Herzliche willkommen!
Do zobaczenia wkrotce!